Hèctor, oder die Katze, die keiner haben wollte

Kurz und knapp: In unserer Straße wohnt eine Kätzchen. Und was für ein hübsches. Seit Dezember 2020 lebt der kleine Hèctor nun schon auf der Straße. Wird von allen geduldet, von einigen geknudelt. Irgendjemand füttert ihn dann doch immer. Ich habe begonnen, ihn ausgiebig zu streicheln. Wenn ich von der Uni nach Hause komme, rennt er meist schon auf mich zu und miaut laut. Jetzt im Winter wird es auch in Marseille in der Nacht ziemlich kalt. Es zerreißt mir das Herz.

 

Meine WG will keine Katze und ehrlich gesagt wüsste auch ich nicht hundert Prozent, was ich mit Hèctor zurück in Deutschland in meiner kleinen Wohnung anstellen sollte. Artgerecht ist das nicht. Aber vielleicht besser, als zu erfrieren und zu verhungern?

 

1.) In Frankreich ist das Füttern von Straßenkatzen strafbar. Meine Nachbarin, Mme Foudier, regte sich einmal fürchterlich auf, als sie mich mit Hèctor sah.:

"Weißt du Selma, wenn die Leute sagen, "Katzen füttern ist in Frankreich verboten", ja leck mich doch am Arsch! Sollen die doch mal auf ihr Essen verzichten! Was für eine Scheiße! Ich verstehe nicht, wie man so herzlos sein kann!" 

Dann holte sie eine weise Platikbox aus dem Kofferraum ihres Autos und schmiss Hèctor drei gegrillte Hähnchenschenkel hin. Den vierten belud sie mit einem riesigen Berg Remoulade und legte ihn dem kleinen (noch...) gesunden Kätzchen vor die Füße. Hèctor schlabberte wie ein Großer.*

 

"So sieht's aus, siehst du? Eigentlich sind die für meinen Sohn zum Geburtstag. Der hat heute Geburtstag. Aber der weis sowieso nicht, wie viele da davor drin waren. Hahaha. Guten Appetit Hèctor! Machs gut Selma, bis bald!"

2.) Vor ein paar Wochen sprach mich ein Mann in der Straße an. Er wohnt ein paar Straßen weiter und hatte mitbekommen, dass es hier eine Straßenkatze gab. Da seine Schwester Tierärztin war, hatten sie die kleine Katze gemeinsam untersucht. Hèctor war eine SIE! Sie war kastriert, tätowiert und hatte weder Flöhe noch Bandwürmer. Nach gut einem halben Jahr auf der Straße eine reife Leistung! Doch das hieß gleichzeitig, dass irgendjemand sie schon einmal, als kleines Katzenjunges, behütet hatte. Er fragte mich, ob ich sie nicht in Obhut nehmen wollte. Sie bräuchte einen warmen Ort im Winter. Unglücklicherweise entschieden sich meine Mitbewohner:innen dagegen.

Ob ich ihr ein gedämmtes Häusschen baue ist noch unklar. Sagen wir es so... meine Streicheleinheiten haben sich verlängert, ich habe ihr eine Fellbürste gekauft und mittlerweile bin ich diejenige, die zur Zeit an der Reihe ist, 60 cent pro Tag für feines Bio - Katzenfeuchtfutter auszugeben.

Da sich viele Menschen in der Straße heimlich kümmern, hoffe ich darauf, dass sich ihr doch noch jemand erbarmt. Die anderen Katzen in der Straße prügeln sich regelmäßig mit ihr. Vermutlich auch, weil sie immer Futter bekommt. Sogar der kleine Fußabtreter von Monsieur Chevalier flitzt jedes Mal hocherregt kläffend auf Hèctor zu, erwürgt sich dabei fast selbst an der Leine, die ihn Gott sei dank noch hält.

 

 

3.) Unsere Straße ist eine Einbahnstraße und zählt ca. 30 Häuser. Die einen sind mehr bekannt, die anderen weniger. Im Sommer gab es ein großes Straßenfest mit bunten Wimpeln. Die Kinder verkleideten sich, rannten den ganzen Tag kreischend zwischen den Häusern durch und malten mit Straßenkreide große Blumen auf den Boden. Die Kinder waren die ersten, die ich in der Straße kennen gelernt hatte.

Da  gibt es Paul, Hèrve, Odette, Aurelie, Jean, Cloé und Raphael. Die Bande geht in die erste und zweite Klasse und hatte mich nach der Schule, mittags, mit der Katze auf dem Schoß gesehen. Mit großen Augen und quietschenden Stimmen kamen sie näher. 

 

Raphael: Ist das eigentlich deine Katze?

Ich: Nein, ich glaube die Katze gehört zu niemandem.

Aurelie: Dann ist sie ganz alleineeee!

Jean: Nein, sie ist nicht alleine. Du siehst doch, dass sie sie streichelt.

Odette: Darf ich sie auch mal streicheln?

Paul: Wie heißt die Katze?

Ich: Ich weiß nicht, wie sie heißt. Hat sie hier noch keinen Namen?

Aurelie: Nein. Sie ist ganz alleineeee.

Cloé: Ich hätte gerne eine Katze. Sie ist so süß.

Ich: Wollen wir ihr einen Namen geben?

Cloè und Aurelie: Ja!

Raph: So nen doofen wie "Hèrve" hahaha. [Hèrve ist im französischen ähnlich, wie "Otto" im deutschen]

Cloé: Sei nicht so gemein.

Hèrve: Du bist dumm, jetzt darf ich mir einen Namen aussuchen! Ich sage sie heißt Hèctor!

Raph: Na sag ich doch, so ähnlich wie Hèrve, hihihi...

 

Raphael grüßt mich seither jedes Mal stolz, auch wenn wir uns außerhalb der Straße sehen, was zugegeben herzerweichend ist und mich immer wieder freut. Seine Mutter scheint da weniger begeistert zu sein.

Es reicht trotzdem für ein schiefes Grinsen und wohlwollendes Nicken.

 4.) Als ich am Anfang einmal, mit der Katze auf dem Schoß, vor dem Haus von Mme Dupoin saß, kam sie gerade aus der Tür. Normalerweise ist es unüblich in Marseille vor einem Haus zu sitzen, oder in einem Hauseingang abzuhängen. Wenn, sind sie reserviert für Menschen, die ohne Dach über dem Kopf leben. Plötzlich kam eine alte, schicke Dame heraus. ich entschuldigte mich und stellte mich vor, weil ich einfach so vor ihrem Haus herumgesessen hatte. Doch keine Reaktion. Sie schaute perplex zwischen mir und Hèctor hin und her.

 

"Hast du gerade Hèctor gestreichelt?"

-Ja

"Hm... das ist unfair. Ich füttere ihn jeden Tag, aber von mir lässt er sich nie streicheln."

Ich musste lächeln und es freute mich sehr, dass auch sie sich um Hèctor kümmerte. 

 

* Zu 1.): Diese Anekdote soll keineswegs eine derart ungesunde Ernährung verherrlichen. Ich weiß nicht, wann wir das Tierheim informieren werden. Wenn es zu keiner Lösung kommt, wird das die beste Möglichkeit sein, Hèctor ein anständiges Zuhause zu ermöglichen. Das kleine Kätzchen sitzt seit Dezember 2020 jeden Tag in der ruhigen Straße auf warmen Motorhauben, ist gesund, lässt sich streicheln, füttern, von allen umsorgen und genießt die Sonne und sein Leben in Freiheit. Hoffe ich.