Tu veux le récupérer?

Allen voran will ich klar sagen, dass ich mir darüber bewusst bin, dass ich sehr viel Glück mit allem und allen in Marseille hatte. Mittlerweile lebe ich einen geregelten Alltag und eine fremde Sprache zu sprechen hat sich normalisiert. Ich bin nicht mehr dauermüde und wenn ich lache, dann ist es ein aufrichtiges Lachen. Aber alles der Reihe nach...

 

Die ersten Wochen in Frankreich war ich am Dauergrinsen.

 

Die eine Hälfte der Zeit grinste ich, weil ich mitten in einem Gespräch oder einer Gesprächsverfolgung plötzlich überhaupt keinen Plan mehr hatte, über was eigentlich gesprochen wurde. Ich musste über mich selber und die Absurdität dieser Situation lachen. Es blubberte oft einfach aus mir heraus. Das war vor allem dann problematisch, wenn es sich bei meinen Gegenüber um traurige oder emotionale Geschichten handelte.

 

Die andere Hälfte der Zeit verbrachte ich grinsend, weil ich nur gefühlte zehn Prozent von dem verstand, was gesprochen wurde. Damit es nicht auffiel, dass ich eventuelle Themenwechsel, Scherze oder Anekdotenpointen gar nicht verstehen konnte, schlich sich mir also ein dauerhaftes schiefes Lächeln zur "Vorsorge" ins Gesicht. Allerdings kann sicher gesagt werden, dass dieses Lächeln oftmals ein wenig versteinerte. Es kostete verdammt viel Energie.

Während einer Erkundungstour in der Nähe des Parc Longchamp schloss sich neulich ein automatisches Tor hinter uns. Den Sonnenuntergang mussten wir daher im Einklang mit Plattenbauten genießen.
Während einer Erkundungstour in der Nähe des Parc Longchamp schloss sich neulich ein automatisches Tor hinter uns. Den Sonnenuntergang mussten wir daher im Einklang mit Plattenbauten genießen.

Intern

Als die Uni anfing, verschärfte sich meine Unsicherheit noch einmal, da ich während der Kurse zeitweise einfach absolut keinen Durchblick hatte und die ersten vier Wochen immer wieder Aufgabenstellungen per Mail nachfragen musste, da ich sie nicht mitbekommen hatte und nur durch Zufall klar wurde, dass es dort etwas zu erledigen gab.

Das war anstrengend und ich würde lügen, wenn ich sage, dass ich mich nicht immer wieder dabei ertappte, wie ich mich dementsprechend selbst in die Rolle der tapsigen Ausländerin stopfte und die Joker dementsprechend galant auszuspielen versuchte. 

Zugegebenermaßen war ich von dem Universitätssystem so unglaublich genervt (niemand antwortete mir auf administrative Mails und wenn doch, war niemand verantwortlich), dass ich mich mittlerweile ebenfalls ein wenig zurücklehne. Ich gestand mir ein, dass es keinen Sinn ergibt, möglichst viele Kurse zu belegen, um am Ende total gestresst und verzweifelt in der Materie zu sitzen. Es ist eine Studienerweiterung, kein gesonderter Abschluss (sowie ihn die Komiliton:innen aus Hildesheim im Doppelmasterstudiengang "Kulturvermittlung" nach diesem Jahr haben würden). Mir dessen bewusst zu werden und es mir einzugestehen, loszulassen oder - zuzulassen... war nicht leicht.

 

Extern

Außerhalb der Uni war ich ebenfalls bis Ende Oktober, nennen wir es irritiert.

Denn so wunderschön es war, in Südfrankreich an der Alpe- Côte d'Azur zu wohnen und wie sehr ich die Menschen um mich herum auch mochte - ich fühlte mich nicht existent. Alles, woran ich in Deutschland glaubte, wofür ich stand und an was ich arbeitete war irgendwie aufgelöst. Natürlich versuchte ich mich in politischen Diskussionen oder queeren Debatten. Es interessierte mich ja brennend, was es für Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich in diesen Bereichen, auch aus politischer Sicht, gab. Doch die Zeit, die ich brauchte um durchzublicken oder aber zu verstehen was genau der Standpunkt meiner Gegenüber war, raubte mir die Möglichkeit gerade zu stehen und meine Meinung und Einstellung, meinen "Esprit", preiszugeben. Ich weigerte mich, auf englisch zu sprechen. Denn hatte man das einmal angefangen, wurde man es nicht so schnell wieder los.

 

Tandem

Nach knappen drei Monaten begann ich ein Tandem mit einem Freund unserer WG, welcher sein deutsch verbessern wollte und dafür zu Beginn meines Aufenthaltes seine alten Deutschbücher wieder hervorgeholt hatte um auf ein akzeptables Niveau zu kommen.

Wir trafen uns im Café Conception in der Rue Saint-Pierre. Bisher hatte ich immer nur vom ominösen Konzept des Tandems gehört, nie selbst eines mitgemacht. 

Tandem bedeutet, dass sich zwei Menschen treffen um (im besten Fall) die Muttersprache des Anderen zu lernen. Es hat viel mit Vertrauen und Entdecken - mit Zuhören, Aufmerksamkeit schenken und sich geduldig Zeit zu nehmen sowie auf die Person gegenüber einzugehen, zu tun. Dabei sollten beide zu gleichen Seiten davon profitieren und Fürsorge für den Spracherwerb des Gegenübers übernehmen. Im besten Fall steht so viel Empathie im Raum, dass sich "fallen gelassen" werden kann. 

Kommunikation durch Geschmack - und zum entspannen: Mittlerweile habe ich angefangen selbst Pâtiseriekram zu backen. (Mit Klick auf das Bild gehts zum Patisserie Eintrag "Brandteig&Pudding")
Kommunikation durch Geschmack - und zum entspannen: Mittlerweile habe ich angefangen selbst Pâtiseriekram zu backen. (Mit Klick auf das Bild gehts zum Patisserie Eintrag "Brandteig&Pudding")

Als ich das Café nach zwei Stunden verließ und durch den kühlen Regen durch die Nacht lief, verspürte ich das erste Mal seit Wochen wieder ein großes Glücksgefühl was die Arbeit mit und an der französischen Sprache anging. (Und ja, auch über den Regen freute ich mich sehr.)

Es war nicht, weil ich besonders viel gelernt hatte. Es war einfach nur die Zeit, die wir uns genommen hatten, um zuzuhören und uns zu verbessern. Natürlich passiert das auch im Alltag und das ist toll. Aber ich muss zugeben, dass ich nur selten mitschreibe oder es wirklich tief abspeichere.

Es ist keine Zeit dafür, denn man will ja etwas sagen. Man hat ja eine Meinung. Das einzige Problem besteht darin, dass ich diese oft nicht mitteilen kann oder selbst aus meiner überzeugenden Rolle falle, weil plötzlich ein Wort fehlt, ich nach einer grammatikalischen Form suche und so weiter. Und das tut in dem Moment weh.

 

Noailles

Ein Viertel, indem ich mich richtig wohl fühle heißt "Noailles". Dort gibt es viele arabisch sprechende Menschen, es wird gerne zum Tee eingeladen und irgendwie haben alle Zeit. Dabei wird einmal eingeladen oder angesprochen und danach in Ruhe gelassen. Das ist super angenehm. Es ist schön, wenn man sich gegenseitig in einem kleinen Plausch auf den Arm nehmen kann, weil von beiden Seiten klar ist, dass kein akzentfreies Französisch gesprochen wird.  

Kreisverkehr an den Plages du Prado
Kreisverkehr an den Plages du Prado

Anders ist es dagegen in den Malls. Erst gestern war ich einkaufen und wollte etwas Vorbestelltes abholen.

Es war mal wieder großes Kino:

 

Vous voulez le récupérer?

- Quoi? [Quoi bedeutet "was" und ist im französischen äußerst unhöflich, ähnlich wie "Hä?"]

...

-Pardon, comment? [Comment bedeutet so etwas wie "wie bitte?"]

Vous voulez le récupérer?

[Was nur dieses récupérer bedeutete, ich hatte keine Ahnung]

Madame, si vous voulez le récupérer, je vais appeler un collègue.

[Jetzt wollte sie einen Kollegen holen, wenn ich es "récupérer" wollte. Hinter mir standen etwa 30 wartende Leute.]

- Euh...Ben...Oui ... ... je veux le récupérer...Merci.

 

[Augen zu und durch. Lächeln und Winken. Nicht immer die beste Methode, aber manchmal die einfachste.]

 

DALF

Ich spiele immer wieder mit dem Gedanken, hier in Frankreich mein DALF (Diplôme approfondi de langue francaise) zu machen. Ich hätte dann einen Zettel auf dem stünde, dass ich das Niveau C1 im "gemeinsamen europäischen Referenzrahmen" erreicht habe.

Besser ist nach A1, A2, B1, B2, C1 nur noch C2.

Die meisten machen das bereits in der Schule. Leider bietet die Universität Marseille zur Zeit keine Kurse an. Drei mal dürft ihr raten warum. Richtig. Pandemiebedingt.

Es bleibt spannend und ich hoffe sehr, dass ich mich trotzdem weiterhin verbessere. Immer einen Schritt näher, mit schiefem Grinsen und in lockerem Traben, zurück zu meiner Persönlichkeit. 

 

B.A.+ Kader

Als ich dieses Thema heute in einem Onlinetreffen des B.A.+ Kaders erzählte, waren einige sehr besorgt. Das erschreckte mich, denn es ist unbegründet.

Natürlich könnte ich immer nur davon berichten, wie toll und unbeschwert alles ist. Dies ist aber nicht der Sinn der Website. So wie ich es bisher einschätze, sind die ein oder anderen Komplikationen im Ausland ganz und gar natürlich am Start. Sich deshalb von der Heimat aus zu Sorgen, ist Quatsch.

Mitfiebern ist okay. Solange es kein krankheitsbedingtes Fieber ist.

(Fehl am Platz: Dieser Seitenhieb & Schenkelklopfer geht an alle, die mir in letzter Zeit von der Inzidenz in Deutschland berichteten. Fühlt euch gedrückt und bedacht.)