Bissfeste Jacken & Knutschkugeln

Candy, Zapato, Teddy, Aldo, Era. Seit einigen Wochen arbeite ich im Tierheim. 

Es liegt ein wenig außerhalb vom Zentrum und steht auf einem abgelegenen Hügel neben einer Autobahn.

Doch von lauten Autos keine Spur. Der steile Weg am Eingang ist ein echtes Katzenparadies. Hier werden Katzen gehütet, welche kein Zuhause mehr haben, oder von der Straße gerettet wurden. Sie sind nicht abzugeben und werden mehrmals am Tag gefüttert.

 

Die eigentlichen Bewohner des Tierheims sind Hunde. Da gibt es zum Beispiel Aldo. Er wird nur mit seinem Bruder vermittelt, ansonsten wäre ich längst schwach geworden. Aldo liebt Menschen und ist ein echter Schleimer. Blöderweise wurde ihm von einem anderen Hund das Ohr abgebissen. Das scheint ihn nicht zu stören. Er tollt fröhlich zwischen den restlichen Hunden herum.

 

Im Herbst fand ich die Website des Tierheims und sah eine Anzeige um "Devenir bénévole", also Freiwillige Helferin zu werden. Ich setzte mich in den  Bus und stand wenig später in dem kleinen Empfangshäuschen zwischen Katzenhügel und Hundehütten. Hundehütten, werden hier kleine beheizbare Zimmer mit überdachtem Auslauf genannt. Die Stimmung war heiter und ich sollte die Tage nennen, an denen ich frei war.

Das erste Mal rausgegangen, bin ich mit Candy. Direkt neben dem Hügel verläuft ein Fluss, welcher an einem Park und dieser wiederum an einem Berg mit Wald endet. So lässt es sich prima Gassi gehen.

Wer das Tierheim verlässt, muss immer eine Leine um den Bauch tragen. Dies ist eine Regel für den Fall, das ein Hund abhaut. Läuft ihm zufällig jemand über den Weg, kann er sofort mitgenommen werden, ohne den eigenen Hund abzuleinen oder erst noch Hilfe holen zu müssen.    

 

Alle Mitarbeitenden sind sehr offen und herzlich und gehen unglaublich liebevoll mit den Tieren um. Leider gibt es zu viele Hunde, deren individuelle Betreuung nicht machbar ist. So werden sie in Gruppen abwechselnd frei auf dem Grundstück laufen gelassen und nur mit Problemhunden oder Hunden mit speziellen Bedürfnissen (alt, eingeschränkt), wird zwei Mal am Tag eine Stunde Spazieren gegangen. Dabei gibt es einen strengen Zeitplan, damit jedes Tier wenigstens ein wenig raus kommt.

 

Bénévole werden braucht Zeit. Es ist unklar, ob die Zeit in Marseille reicht, um mich als Bénévole einarbeiten zu können. Die größeren Gruppen im Hof werden von zwei bis drei Ehrenamtlichen betreut - natürlich wird auch die ein oder andere Streicheleinheit vergeben oder Stöckchen geworfen. Sowie mit Teddy.

Teddy ist ein Teddy. Braun, wuschelig, Zucker. Das einzige, was mich abschreckt, ist sein sehr hohes Kläffen. Es nervt. Trotzdem ist Teddy mein Lieblingshund. Er sieht toll aus. Nur gibt es da ein Problem:

Jedes Mal, wenn er wieder in seinen Käfig soll, rennt er aufgeregt im Kreis, sammelt Stöckchen und legt sie alle auf einen Haufen. Fordert einen auf, mit ihm zu spielen, nach dem Motto "Hey komm, sei doch nicht so eine Spaßbremse. Es gibt noch soooo viel zu erleben! Schau mal hier, das Stöckchen. Wirfst du es mir? Ja? Ja?" Er hat viel Energie und würde am liebsten den ganzen Tag toben, spielen, kuscheln und Abenteuer erleben. Doch die nächste Hundegruppe muss raus und Teddy in seine Hütte. Es ist herzzerreißend. Sogar Leckerli sind ihm in diesem Moment egal und er beginnt zu jaulen.    

 

Simon-Mathieu ist für meine Einarbeitung verantwortlich und sagt mir zu Beginn der Schicht was es zu tun gibt. Auch er ist ein Freiwilliger und bekommt kein Geld. Allerdings hat er jahrelange Erfahrung und ist mehrmals die Woche dort. Die Direktorin meinte zu Beginn, dass das Tierheim zu wenig Subventionen bekommt und einzig die freiwilligen Helfer:innen, sowie Geld- und Sachspenden, die Existenz sicherten. 

 

Die meisten Ehrenamtlichen reden einen harten Marseiller Dialekt, was mich nicht selten ins Schwitzen bringt.

Meine liebste Kollegin ist eine ältere Dame. Sie ist bestimmt über 80. Oft fährt sie mit Bouboul im Auto über eine kleine Brücke direkt an den Park. Bouboul fehlt die rechte Vorderpfote, daher ist es ein toller Luxus, direkt an die weiche Wiese gefahren zu werden. Einmal durfte ich mitkommen. Die ältere Dame kramte in ihrer Tasche und zog ein kleines Beutelchen hervor. "Hihihi, Louise." begann sie verschmitzt. "Die anderen sagen, das ist schlecht, aber schau ihn dir doch an, meinen Liebling."

Die ältere Dame wohnt auf einem kleinen Hof und hatte dort ein Huhn geschlachtet. Bouboul schlabberte die rohen, glibberigen Filetstückchen. "Alles Bio Louise! So etwas Gutes bekommt er nie! Kein Antibiotika! Keine Pestizide!"

Ich ignorierte grinsend nickend meinen Magen, der laut rumorte und erklärte ihm, dass dies eine gute Sache sei. Weil das Huhn vermutlich ein gutes Leben gehabt hatte und Bouboul gutes Fleisch bekam.

 

Nach unserem Ausflug saßen wir noch lange Zeit im Auto und sie erzählte mir von der aktuellen Politik, das die jungen Leute schon recht hatten mit "ihrem Anarchismus" und sich um die Umwelt kümmern sollten - solange sie ihr Auto weiter auf dem Land fahren durfte. Außerdem berichtete sie mir ausgiebig von den Champagnerlieferungen für die Hochzeit ihrer Tochter nach Paris, welche durch einen Tippfehler nun kistenweise bei ihr in Marseille gelandet waren. Es war ein echter Sprachkurs. Sie redete viel, schnell und aufgeregt im Dialekt. Am Ende sollte ich sie dabei begleiten, die Champagnerfirma anzurufen.

 

Auch Simon-Mathieu verstand ich einmal vor einer Schicht nur halb. Gestisch spielte er es herunter und winkte ab. Es konnte also nicht so wichtig sein. Zusammen mit einer Bénévole, holte ich Bandit und Zapato aus ihren Hütten. Und begann die Runde zu drehen. So der Plan. Zapato sah das anders und versuchte immer wieder zu beißen. Erst hing er an der Jacke, dann an meinem Arm. Während er da so baumelte fragte ich die Bénévole Lydia ruhig, was denn nun der Plan war. Wie ich ihn wieder loskriegen könnte.

Ich glaube sie war in diesem Moment ähnlich geschockt wie ich.

Das dritte Mal versuchte Zapato es an der Hose. In einem klärenden Gespräch nach Feierabend, verstand ich. Zapato wollte spielen. Er hatte nicht bis aufs Blut gebissen. Aber ich war eine fremde Person gewesen, welche erst die Fronten zu klären hatte. Ich machte deutlich, dass klarer werden musste, welche Hunde "gefährlich" waren und fragte Simon-Mathieu, ob ich ihm nicht einfach beim nächsten Mal Leckerlis zum Kennenlernen geben könnte. Dann würde er merken, dass ich nett war. "NETT? Louise! Das hier ist ein Tierheim. Wir sind hier nicht nett. Wir arbeiten mit den Tieren nicht, weil wir sie süß finden! Wir sind nicht nett. Merk dir das."

 

Das war Quatsch. Dem Umstand nach aber in Ordnung. Zapato war von seinen früheren Besitzer:innen geschlagen worden und ist nun unberechenbar. Das war es, was mir Simon zu Beginn der Schicht hatte sagen wollen. " Louise! Geh mal ins Empfangshäuschen." Zwinkerte mir plötzlich meine Lieblingskollegin, die ältere Dame, zu. "Ich habe dort selbergemachte Calissons für alle hingelegt. Gestern frisch gemacht." Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. 

Calissons d'Aix sind feine, schiffförmige Süßigkeiten aus der Provence. Mandelmus, Melone und Orange können darin zu finden sein.

 

Kein Marzipan.

Aber so wie.

Mit Zuckerguss.

 

So ganz, habe ich das Geheimnis der Calissons d'Aix noch nicht durchschaut. In Marseille sind sie in jedem Supermarkt zu finden. Und ehrlich gesagt, spielt die Definition der Spezialität und der typischen Süßigkeit aus der Provence, bzw. aus dem Nachbarort Aix-en-Provence, mittlerweile garantiert in den Preis mit hinein.

 

Da es bereits spät war, hatten wir also eine Pause mit heißem Tee und Calissons gemacht. Dann gingen Lydia und ich mit Era auf den bewaldeten Berg. Era ist eine große Schäferhündin. Ich hatte heftigen Respekt vor ihr und wollte nicht noch einmal gebissen werden. 

Das war albern, denn Era ist eine Oma. Sie tut keiner Fliege etwas zu Leide und will einfach nur, dass ihr wer drei oder viermal ein Stöckchen wirft. Danach ist sie so müde, dass sie es kaum noch nach Hause schafft.    

 

 

Nach dem Vorfall mit Zapato empfahl mir die ältere Dame mit den Calissons einen Second Hand Laden - die "Friperie". "Kauf dir eine Jacke, die kaputt gehen darf! Etwas bissfestes." sagte sie lachend.

Geht man links vom Eingangstor des Tierheims eine schmale Treppe hoch, kommt man zu einer kleinen Finka. Oft hatte ich mir überlegt, warum der Parkplatz des Tierheims immer so voll war, obwohl keine Interessenten für die Hunde da waren - Absolut "pittoresque" (malerisch) war es dort oben. Die kleine Finka ist bis oben hin vollgestopft mit allem, was das Herz begehrt. Immer wieder musste ich mich zwischen all den schönen Sachen an mein eigentliches Vorhaben erinnern. Ich fand eine braune Kordhose und eine hässliche schwarze Bomberjacke, die dick gepolstert und aus festem Stoff war. Perfekt. 

 

Zwei Tage später bemerkten wir in der WG, dass wir diese Woche allesamt Außergewöhnliches in Secondhand-Läden gefunden hatten und machten eine kleine Modenshow.