Schlichtes Rumgebummel

Das zweite Semester bricht heran.

So richtig Ferien zwischen den beiden Semestern gibt es an der AMU Université-Aix-Marseille nicht. Dafür aber sehr, sehr, lange frei im Sommer. Streng genommen ist das Studium für meine Klassenkamerad:innen bereits im April vorbei. Dann folgt ein Praktikum oder ein direkter Berufseinstieg, da die Licence Professionnelle nur ein Jahr, also zwei Semester andauert. Die Licence Pro ist eine Berufsvorbereitung nach dem Bachelor und vertieft einzelne Themen. Der Bachelor heißt La Licence.

Mir fehlt ebenfalls ein Praktikum und die lang ersehnte Bachelorarbeit, um das Studium in Deutschland abzuschließen. Ein direkter Berufseinstieg wird vermutlich nicht klappen. Höchstens ich schreibe die Bachelorarbeit parallel. Ein alberner Gedanke.

 

Vor Weihnachten hatte ich das große Privileg für eine Woche im Stadtviertel Le Panier unterzukommen um eine kleine Wohnung zu hüten. Selbige lag im obersten Stockwerk mitten auf der Straße Rue du Panier. Diese bildet eine der Hauptstraßen im Viertel und ist geschätzte 4 Meter breit. Ab 21 Uhr ist es verboten mit dem Auto zu fahren. Junge Erwachsene trafen sich dann mit laufenden Motoren und quer gestellten Wägen am Eck des Hauses und standen auf der Straße herum. Plauderten.

Da ich im Anschluss für die Weihnachtsfeiertage, direkt nach Deutschland fahren wollte, schleifte ich allerhand Unfug mit mir herum. Den Koffer in die Bude zu bekommen, artete komplett aus. Bewaffnet mit einer dieser großen blauen Ikea Tüten, lief ich acht Mal hinauf und hinunter. Zuletzt plumpste ich mit dem übergroßen leeren Koffer die Stufen hinauf. Einen Vorteil gab es: Das Treppenhaus war so eng, dass es unmöglich war, nach hinten zu fallen. Vorher drohte ich festzustecken.

Ausblick aus der Dachwohnung im Le Panier
Ausblick aus der Dachwohnung im Le Panier

Überall wunderschöne Streetartkunst. Alles in einem sehr eigenen, orangenen Charme eingetaucht. Überall kleine Lädchen und die verwinkelten Gassen vollgestopft mit dieser grazilen Art von Topfpflanzen, welche sich in Deutschland immer außerordentlich betüdeln lassen: Damit sie nach jahrelanger Liebkosung, gutem Zureden und Schildlausbekämpfung, irgendwann dazu herablassen, doch noch ein Miniblatt auszugeben. Party.

Im Le Panier wächst alles groß und saftig und wuchert über den Asphalt. Ich muss mich jedes Mal zusammenreisen, nicht allzu ausgiebig darüber nachzudenken, wie einfach die meisten dieser Pflanzen Ableger ergeben. Mit einem Miniblatt. Doch ganz im Ernst - Im Sommer ist es DER Touristenhotspot. Und Pflanzen abrupfen - das käme sicher den Stränden gleich, an denen es mittlerweile heißt "Hallo liebe Tourist:innen. Könntet ihr bitte keine Muscheln mitnehmen. Ansonsten existiert dieser Strand in weniger als vier Jahren nicht mehr." (So gesehen 2018 bei Vigo, Spanien) Bis dahin war mir nicht bewusst gewesen, dass sehr weiße Strände aus kleingehäckselten Muscheln bestehen.

 

Eines Abends hatte ich mich mit einer Freundin auf ein Kaltgetränk in einer der bunten Gassen getroffen. Die Kneipenbesitzerin war komplett in ihrem Element und lud uns zu einer Probe durch die einzelnen Kraftbiersorten ihres Ladens ein. Sie konnte zehn Minuten lang über die Geschmacksrichtung von nur einer Sorte erzählen! Sie wirbelte auf und ab und ich muss zugeben, dass mein Bier mit Ingwer und Pfirsich wirklich nicht schlecht war (herb und weniger süß und fruchtig, als befürchtet).

 

 

Mit mir und dem Bier ist das in Frankreich so eine Sache. Trocken berichtet, wurde ich zu Beginn meines Aufenthaltes einige Male in einer lauen Nacht zu Bier eingeladen. Da stand dann eine wunderhübsche große Flasche mit buntem Etikett. Ich hatte mich tierisch darüber gefreut. 


Hopfig-malzig. 

Feinherber Geschmack und am besten dunkel. Sprudelig. Schlurps. 


Lavendel. Anis. Rose. Mit sehr wenig Kohlensäure. 


Warum.

Aber zurück zum eigentlichen Thema. Es war fantastisch sich vorzustellen, im Le Panier für länger zu wohnen.

Die zwei älteren Nachbarn, welche ich aus meinem Dachfensterchen bei meinem Kaffee beobachten konnte, saßen den ganzen Tag abwechselnd in der Sonne und graulten ihre Katze. Wir winkten uns bedächtig grinsend zu.

 

An einem anderen Abend machte ich mich auf weihnachtliche Geschenkejagd und glotzte, wahrscheinlich etwas unbehände, durch kleine, hölzern gerahmte Fensterchen in eine Töpferwerkstatt. Ein alter Mann mit langem, weißen Bart und weißen Haaren schlurfte aus seinem Schaukelstuhl langsam zur Tür und bat mich herein. Hatte er nicht bereits geschlossen? Doch. Ich solle kommen und seine Werkstatt ansehen. Den Laden bestaunen. Alles handgemacht. Er betrieb die Werkstatt seit 35 Jahren. Doch auf neugierige Fragen meinerseits, wie Marseille wohl früher war, lächelte er nur müde, setzte sich in seinen Schaukelstuhl und schwieg. Ich bedankte mich für die Führung, lobte noch einmal die bunten Schalen und wünschte ihm alles Gute für die nächsten 35 Jahre. Auch das fand er nicht lustig und schnaubte in seine Zeitung. "Regarde autour de toi. Tout va mourir"  Guck dich doch mal um. Alles wird sterben. Geknickt verließ ich den Laden.

 

Es ist schwierig zu dieser Geschichte Stellung zu nehmen. Die Gentrifizierung macht auch vor Marseille nicht halt. Wohnraum, welcher billig gebaut und teuer verkauft wird. Menschen, welche dadurch von Orten verdrängt werden, an denen sie teilweise ihr ganzes Leben verbrachten. Wohnraum der zu teuer verkauft wird. Wohnraum, welcher teuer aufrecht erhalten wird. Wer entscheidet, welcher Wohnraum teuer erhalten bleibt? Wohnraum, welcher erst gar nicht aufrecht erhalten wird. Einbruchgefährdet, damit die Genehmigung zum Abriss erteilt wird. Youtube zeigt einige Reportagen. Wer wird wo verdrängt? Und warum? Wodurch? Was bedeutet die Gentrifizierung für meine Privilegien als ausländische Studentin? Was bedeutet es, wenn junge Akademiker:innen (meist aus künstlerischen Bereichen), überlegen ins berüchtigte Quartier Nord zu ziehen, weil es Ihnen nicht möglich gemacht wird, etwas in Zentrumnähe zu finden oder dort zu bleiben? Das Quartier Nord ist eine Gruppierung von riesigen Hochhäusern im Norden von Marseille. Es ist stark von Armut geprägt. Die jungen Leute haben keine Lust den Hype um ihre Stadt mitzumachen. Weil sie eigentlich einfach nur leben wollen. Dort, wo sie gelebt haben, ihre Kunst hatten, ihre Kultur und nicht dort wo nun etwas Innovatives entsteht und Investoren sich die Hände reiben.

 

Wachsam sein. Um die Ecke denken. Und vielleicht nicht sofort die Meinung der Reporter:innen aufnehmen. Wichtig ist, das gebaut und saniert, geschützt und verändert wird. Bleibt nur die Frage nach dem wie.