"Ich habe die Farben des Rauches in der Fabrik gezählt. Rot, grün, schwarz, grau, gelb, weis. Du kannst sie nicht zählen."

Filmkritik "La Colline": ein Fiktions-Dokumentarfilm von Julien Chauzit

Südfrankreich. Die Gemeinde Martigues bei Marseille.

Ein kleines Ferienhaus am Meer. Vier junge Erwachsene, welche unbesorgt Urlaub machen wollen und sich plötzlich in den Fängen zwischen Realität, Jetztzeit und Zukunftsfiktion wiederfinden.

 

Alles beginnt so schön. Die Freunde Ilan (Ilan Couartou), Mèlisande (Mèlisande Dorvault) und Matteo (Matteo Gaya) treffen sich im Haus von Mèlisandes Tante. Es werden Zimmer verteilt, Pläne geschmiedet, rumgehangen. Die Welt scheint perfekt. Doch plötzlich schiebt sich eine junge Frau die Treppen hinauf auf die Terrasse, hinauf ins Bild der Unbeschwerten. 

Solène (Solène Salvat) kommt eigentlich aus Paris und wohnt in direkter Nachbarschaft in einem Ferienhaus. Dort gibt es kein Wasser mehr. Warum? Das passiert hier schonmal. Die drei Freunde laden sie zu sich ein und sie wachsen mehr und mehr zusammen. Gemeinsam erkunden die Vier die Region und müssen mit Schrecken feststellen, dass das Meer an der nahegelegenen Fabrik rot ist. Hier wird Öl gefördert von TOTAL. Der Strand: komplett versalzen und tot.

      

Regisseur Julien Chauzit erzählt mit ruhigen Bildern die Ungreifbarkeit der großen Konzerne im Strudel von Umweltverschmutzung und Klimawandel. So überträgt er ein griechendes Gefühl der Hilflosigkeit auf die Zuschauenden. Gleichzeitig ist La Colline getränkt von wunderbarem, warmen Humor. Etwa wenn abends entspannt vor dem Haus gesessen wird und zwei Kekse aus einem zugeschweißten Plastiktütchen ausgepackt werden. Dann wird gefrotzelt, warum denn eigentlich nicht jeder Keks einzeln in Plastik verpackt sei. Sich lustig gemacht. Kauende, knuspernde, knirschende - bittere Ironie. Ein Humor der niemals aufgibt, oder es - für den Moment - schon längst getan hat.

 

„Natürlich nervt und verängstigt mich der Lärm“, erzählt eine Barbetreiberin dann den jungen Erwachsenen. Sie arbeitet und wohnt in Sichtweite der TOTAL - Fabrik. „Aber was soll ich tun? Wenn ich etwas ändere, kann ich meine Bar schließen.“ 

 

Chauzit dokumentiert das Gefühl der heranwachsenden Generation zwischen der sorglosen Lust am Leben, Unbeschwertheit und der Tatsache, dass man in diesen Zeiten immer wieder abrupt mit der Realität konfrontiert wird. Was bleibt also anderes übrig, als agile Selbstreflexion?  

„Die Menschen kriegen Krebs, Asthma, Diabetes“, erzählt ein ehemaliger Fabrikarbeiter, welcher die Jugendlichen nach ihrem Besuch in der Bar abfängt. Später sagt er noch, dass er die Fabrik nicht schließen lassen will. Denn dann wären alle in der Region arbeitslos. Er setze sich dafür ein, dass die Fabrik mehr Schadstoffe filtert und weniger Gift in die Luft ablässt.

 

Die vier Freunde werden aktiv, erkundigen sich, wollen auf ein Treffen der Umweltschutzbewegung Extinction Rebellion in der Region. Naja fast. Also schon, doch Mèlisande muss leider spontan für ein paar Tage zum Arbeiten nach Marseille und Solène hat gerade einfach nicht so Bock. Aber naja, nächstes Mal! Das Publikum wird sanft Zeug:in einer Realität, die wir alle nur zu gut kennen. Sie legt sich still dazu und schmerzt. Es wird nicht gewertet. Und das tut verdammt noch mal gut.


Doch wer nun denkt, der Film sei ein Trauerspiel, hat weit gefehlt. Starke klangliche Einlagen gepaart mit Bildern, beinahe aus Traumwelten, wechseln mit unglaublichen Landschaftsaufnahmen aus Südfrankreich und einer behütenden Handlung. Sie machen ihn nahbar und geben Lust, sich mit der eigenen Lebensweise auseinanderzusetzen.

 

Wenn Mèlisande und Ilan dann spontan auf einem Dorffest rappen und ihrem Frust über die Politik und den Zweifeln an der Zukunft Raum geben, ist es hart zu sehen, dass das Dorfpublikum sich nicht damit auseinandersetzen will.

„Ach kommt, ihr wollt doch tanzen, also tanzt!“ schreit die Sängerin der vorherigen Band ins Mikro. Unbefangene Schunkelmusik.  Es sind besondere Szenen. Kleine Momente, die bis ins Mark berühren.

 

Am Ende ein ruhiger Saal. Ergriffenheit und Verwirrung. Gepaart mit dieser unbändigen Hoffnung und Liebe am Leben, welche Chauzit aus seinen Figuren sprechen lässt. Es ist ein Suchen nach der Chance auf Veränderung, die nicht ohne die großen Konzerne funktionieren kann. Nicht allein - aber als Bewegung. 

 

La Colline ist ein Apell an die älteren Generationen, nicht wegzuschauen. Und an die junge Generation, nicht aufzugeben. Der Film zeigt liebevoll, dass überall auf der Welt etwas getan werden kann - und getan werden muss. Dass selbst die malerischsten Feriendörfer direkt am Meer in Südfrankreich jetzt im Moment und direkt bedroht sind und das ein „lieber Morgen“ eventuell zu spät sein könnte.

 

La Colline wird bereits in Kanada und Frankreich gefeiert und ist zu verschiedenen Festivals in Deutschland eingesendet, u.a. auch bei der DOK Leipzig. Ich wünsche Julien Chauzit weiterhin brutalst viel Erfolg und kann nur sagen:

 

Danke für dieses sanfte Wecken.

 

- Selma Louise Kniehl